LEADERSHIP «KREIEREN SIE MOMENTE»
DAS GEFÜHL, ZU WENIG ZEIT ZU HABEN: WAS MACHEN WIR FALSCH? DIE ZEITEXPERTIN ANNA JELEN KENNT DIE HINTERGRÜNDE.
VON THOMAS BERNER
Wie geht der Mensch mit seiner Zeit um? Diese Frage beschäftigt Anna Jelen schon lange. Die Zeitexpertin zeigt in Work-shops und Vorträgen, dass unsere Lebenszeit beschränkt ist und man deshalb haushälterisch mit ihr umgehen sollte. Frau Jelen, was sind unsere grössten «Zeitfresser»?Anna Jelen: Ich beobachte bei Menschen enorm hohe Ansprüche, was alles für sie in einem Tag Platz haben soll. Es ist unrealistisch, mit diesen Ansprüchen den Alltag zu bewältigen. Daraus ergibt sich dann eben das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben. Zeitdiebe werden dann ein Thema, wenn man keinen Fokus auf seine Tätigkeiten hat. Das ist zwar eine Standard-Antwort. Doch wenn man weiss, was man will, dann lässt man sich bei einer Tätigkeit weniger ablenken. Ich kenne viele Leute, die sehr gelassen unterwegs sind. Warum? Weil sie ihren Fokus genau kennen und weil sie immer zu hundert Prozent auf das fokussieren, was sie gerade tun.
WAS IST MIT ALLEN ANDEREN? WAS KÖNNEN DIESE DARAUS LERNEN?
Da helfen die zwei folgenden Tipps: Bezogen auf den Alltag fra-gen Sie sich mal, was wäre, wenn Sie nur drei Stunden für Ihre Arbeit zur Verfügung haben. Überlegen Sie sich dann: Welche Projekte soll ich anpacken? Auf diese Weise lernen Sie, klare Prioritäten zu setzen. Dann mit Bezug auf Ihr ganzes Leben: Wenn Sie wüssten, dass Sie nur noch wenige Jahre zu leben haben, was würden Sie alles noch unbedingt tun wollen? Solche Dinge werden Sie bestimmt nicht aufschieben wollen.
ES EMPFIEHLT SICH ALSO, EINE ART «BUCKET LIST» ZU MACHEN?
Warum nicht. Und überlegen Sie sich bei allem: Ist das, was ich gerade tue, auch wirklich wichtig?
WIE LÄSST SICH DENN BEURTEILEN, OB ETWAS WICHTIG IST ODER NICHT?
Schauen Sie: Der Mensch sagt zwar von sich, er habe keine Zeit. Er lebt aber in den Tag hinein, als stünden ihm noch 1000 Jahre zur Verfügung. Das ist paradox, und wir blenden dies einfach aus, verfallen in einen Trott. Testen Sie sich mal selbst während einer Woche: Was schieben Sie vor sich her? Was erledigen Sie gleich sofort? Ich bin sicher, wenn Sie sich dies bewusster überlegen, werden Sie einiges ändern. Alte oder schwer kranke Menschen, die wissen, wann ihre Zeit abläuft, kennen ihre Prioritäten. Das können wir von ihnen lernen.
TROTZDEM: WIE VERSCHAFFE ICH MIR MEHR ZEIT?
Diese Frage müsste anders gestellt werden: Wie und womit fülle ich meine Zeit? Überlegen Sie einmal, welche Dinge Sie nicht mehr tun möchten. Es wird dann Folgendes passieren: Sie wer-den die Löcher einfach wieder mit anderem füllen. Und dann hat man wieder das Gefühl, dass 24 Stunden nicht reichen.
SOLLTEN WIR WIEDER BESSER LERNEN, DAS NICHTSTUN ZU ZELEBRIEREN?
Unbedingt! Einfach mal dazusitzen und nachzudenken, ist etwas Grandioses.
NUN WIRD ABER IN UNTERNEHMEN UNSERE ARBEITSZEIT PEINLICH GENAU ERFASST, ES IST GESETZLICH GEREGELT, WIE VIEL UND WANN WIR ARBEITEN DÜRFEN. INWIEFERN MACHT DIES HEUTE NOCH SINN?
Für mich ist die Zeiterfassung ein veraltetes Konzept. Wich-tiger wäre, mehr resultatorientiert zu arbeiten. Alle, die ich kenne, welche in einem solchen System arbeiten, wollen nicht mehr zur alten Ordnung zurück. Sie bringen Job und Familie besser in Einklang, sie hören auf ihre innere Uhr und arbeiten dann, wann es ihr Biorhythmus am besten zulässt. Viele Chefs haben Angst, die Kontrolle zu verlieren, wenn sie die Zeiterfassung flexibilisieren.
VERSTÄNDLICH, DENN ZEIT LÄSST SICH NUN MAL EINFACHER MESSEN. WIE KÖNNTE DENN EIN ALLTAG «OHNE UHR» FUNKTIONIEREN?
Indem Sie einfach bestimmte Momente kreieren. Jede Tätigkeit ist ein solcher Moment. Erleben Sie diesen einfach im «Hier und Jetzt». Machen Sie mal folgendes Experiment: Jeden Tag schaffen Sie sich einen Moment, der Ihnen selbst gut tut – ich etwa war heute schon in der Sauna. Und einen zweiten Moment kreieren Sie, indem Sie bewusst einem Mitmenschen etwas Gutes tun. Sie werden sehen: Der Alltag erhält so von allein mehr Farbe.